Der SPIEGEL öffnet sein Archiv

13. February 2008

Das neue “Wissen”-Portal des SPIEGEL enthält seit heute alle Ausgaben des gedruckten SPIEGEL seit 1947 im durchsuchbaren Volltext, mit allem Drum und Dran, sogar den Leserbriefen, und natürlich den Klassikern:

http://wissen.spiegel.de

So erfahren auch die jüngeren Leser, dass der affektierte SPIEGEL-Stil nicht vorübergehende Modeerscheinung, sondern sein ewiges Markenzeichen ist. Aus einem Artikel von 1970 (es ging um Woodstock):

“Drei Tage lang lagerten Studenten und Hippies, Musiker und Oberschüler bei Sonne, Regen und Sturm auf einem 243 Hektar großen Farmgelände Körper an Körper: Sie kampierten in Autos und Zelten, kopulierten in Schlafsäcken, konsumierten Millionen Würstchen und Buletten und pafften so viel Marihuana, daß “man schon vom Einatmen der Luft benebelt wurde”, wie im Polizeibericht vermerkt ist.”

Aus einem Artikel von 1957 (über Yul Brunner):

“Von vielen Hollywood-Schauspielern unterscheidet ihn seine schauspielerische Leistung, von allen aber ein Attribut, das ein Hollywood-Produzent seinem Hauptdarsteller noch vor wenigen Monaten nicht einmal im Alptraum zugedacht hätte: Brynner trägt da, wo den durchschnittlichen Star eine wohlondulierte Lockenpracht oder ein vorteilhaftes Toupet krönt, eine schlichte Glatze. Sie akzentuiert unheildrohend die tierhafte Elastizität seiner Bewegungen und den stechenden Blick seiner Augen.”

Viel Spaß beim Stöbern!

(via)


Bush isst auch kleine Kinder

3. October 2007

Gibt es noch jemanden, der sich von SPIEGELOnline gut über amerikanische Innenpolitik informiert fühlt? Nun, ich muss Sie leider enttäuschen. Die Schlagzeile heute abend:

busharmekinder2.jpg

Und das hat er wirklich gesagt:

“Speaking in Pennsylvania, Bush said he vetoed the bill because it was a step toward “federalizing” medicine and inappropriately expanded the program beyond its focus on helping poor children.

“I believe in private medicine, not the federal government running the health care system. I do want Republicans and Democrats to come together to support a bill that focuses on the poorer children,” the president said, adding the government’s policy should be to help people find private insurance.

Quelle: CNN

Bush möchte also die Krankenversicherung nicht dem Bund auferlegen (einige von uns werden sich noch an den Begriff “Föderalismus” erinnern), sie nicht auf weniger arme Familien ausdehnen und bevorzugt außerdem eine private Gesundheitsversorgung. Davon kann man halten, was man will – aber es ist etwas anderes als “zu teuer”.

Siehe auch: USA Erklärt – Die Grobstruktur der USA (oder wo man vor Bush am sichersten ist)

Nachtrag, 4.10.: Greg Mankiw – POTUS on SCHIP (via) – mit aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich der Quelle (“A friend in the White House emails me this explanation…”)

Nachtrag, 9.10.: Eine noch aberwitzigere Schleife dreht MSN: “Bush verbietet Hilfe für arme Kinder

Nachtrag, 11.10.: USA Erklärt – Zum Sinn von Regel 2: Das Veto gegen die Krankenversicherung SCHIP


Konsensregel, Konfliktausnahme

1. October 2007

Kompositionen sind die Tüllschleifchen der deutschen Sprache. Die Möglichkeit, mehrere Begriffe in einem Wort zu kombinieren, gebiert Schönheiten wie Augenblick, Schadenfreude oder Auslegeware, aber auch Ungeheuer wie Netzausscheidungsziffer oder Nassauskiesung. Besonders wir Juristen haben da einige Sünden begangen.

Eine Variante der Komposition ist die Determination: Das erste Wort (“Kopf”) bestimmt den Charakter des zweiten Wortes (“Kern”). Ein Beispiel: Ein Haus ist ein ein-, zwei- oder dreistöckiges Gebäude, in dem Menschen wohnen. Ein besonders hohes Haus ist ein Hochhaus, ein Haus für Autos ist ein Parkhaus. Der “Kern” wird durch den “Kopf” etwas Besonderes.

Und jetzt betrachten wir eine Meldung von SPIEGELOnline:

Huber hatte sich am Samstag auf einem Parteitag in München in einer Kampfabstimmung um den Parteivorsitz gegen Bundesagrarminister Horst Seehofer und die Fürther Landrätin Gabriele Pauli klar durchgesetzt.

Es war keine Abstimmung, es war eine Kampfabstimmung. Der Antritt zweier Gegenkandidaten war außergewöhnlich und brauchte besondere Betonung. Normalerweise beschließen Parteitage nämlich nach Art der DDR. So zeigt unsere Sprache, wie kuschelig wir dort sind, wo wir es eigentlich nicht sein sollten: Kampfkandidatur, Konfliktverteidigung, Fundamentalopposition. Der Konsens ist die Regel. Der Konflikt ist die Ausnahme. Nicht nur bei SPIEGELOnline.

Bonustrack: Das längste nicht zusammengesetzte deutsche Wort ist Unprämonstratenserinnenschaftlichkeit (Quelle: irgendwo im Internet).


Hochbegabtenförderung verfassungswidrig?

25. September 2007

Jurastudenten aufgepasst! Auch wenn Sie durch die letzte Hausarbeit gefallen sind: Sie können immer noch “Gutachter” für SPIEGELOnline werden. Die Hürden sind nicht ganz so hoch wie beim kleinen Ö-Recht-Schein. Eine Seite Text genügt, und lassen Sie sich durch die Bezeichnung nicht verwirren: Den Gutachtenstil brauchen Sie hier nicht.

Klaus Michael Alenfelder, Rechtsanwalt und “Experte für Anti-Diskriminierungsrecht”, hat ein solches “Gutachten” verfasst. Der Sachverhalt: Die Universität Freiburg befreit Studienplatzbewerber von den Studiengebühren, wenn sie einen IQ ab 130 nachweisen. Rechtsgrundlage ist eine landesrechtliche Vorschrift, die eine Befreiungsmöglichkeit für Studierende mit “weit überdurchschnittlicher Begabung” vorsieht (§ 6 Abs. 1 S. 3 LHGebG B-W).

Dieser IQ-Rabatt ist verfassungswidrig! meint Alenfelder, und beruft sich auf Art. 3 Abs. 1 und 3 GG. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 88, 87 und BVerfGE 111, 160) müsse hier ein besonders strenger Maßstab angelegt werden, denn erstens beziehe sich die IQ-Regelung auf Personengruppen, und zweitens könnten die Betroffenen durch ihr Verhalten nichts an ihrer Zuordnung ändern. Für eine derartige Ungleichbehandlung benötige man einen besonderen Rechtfertigungsgrund. Alenfelder hat lange überlegt, und das ist ihm eingefallen:

“Einziger Rechtfertigungsgrund kann sein, dass Studenten mit einem höheren Intelligenzquotienten das Studium mit größerer Wahrscheinlichkeit abschließen. Damit würden überflüssige Kosten eingespart, die durch die Zulassung von Studenten auftreten, die das Studium nach einiger Zeit abbrechen.”

Dieser Rechtfertigungsgrund aber sei bereits in seiner Grundannahme “ein unbewiesenes Vorurteil”, denn der Studienerfolg sei von “zahlreichen verschiedenen Voraussetzungen” abhängig und nicht nur von der Intelligenz. Hochbegabung könne sogar schädlich sein:

“So scheint gerade bei Hochbegabten der Anteil von Minderleistern höher als bei normal begabten (50 Prozent statt 40 Prozent, Prof. Ziegler, Vortrag 12.07.2003). “

(Ehrlicherweise hätte er an dieser Stelle sagen sollen, dass sich Zieglers Zahlen auf Schulkinder beziehen, nicht auf Studenten und dass es andere Statistiken mit anderen Ergebnissen gibt.)

Alenfelder fährt fort: Selbst wenn man annähme, die Gleichung “IQ=Studienerfolg” gehe auf,

“…reichte der prognostizierte bessere Studienerfolg nicht aus, um einen Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Erforderlich wären wesentliche und nachweisbare Gründe, die ausnahmsweise die Ungleichbehandlung der Studenten nach Intelligenzquotient rechtfertigten. “

An dieser Stelle müsste es spannend werden. Gibt es “wesentliche und nachweisbare” Gründe für die Ungleichbehandlung? Ist eine niedrigere Abbrecherquote wirklich der “einzige” Rechtfertigungsgrund? Was hat sich der Gesetzgeber überhaupt mit § 6 Abs. 1 S. 3 LHGebG gedacht? Hat er sich im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraumes gehalten? Man könnte prüfen, ob der Begriff der “Begabung” (der auch in der Landesverfassung steht, Art. 11 Abs. 1) zu unbestimmt ist. Ob die Universität Freiburg die gesetzliche Ermächtigung richtig aufgegriffen hat. Ob der IQ überhaupt ein Indiz für “Begabung” ist. Man sollte bei der Abwägung im Auge behalten, dass es hier nicht um Studienplätze, sondern um 500 Euro pro Semester geht, die einige Studenten nicht bezahlen müssen.

Und was schreibt Alenfelder?

Nichts. Das Gutachten ist an dieser Stelle zu Ende. Jedem Jurastudenten hätte man für diese Subsumtion dicke Bleistift-Kringel an den Rand gemalt. Für SPIEGELOnline ist sie offenbar gut genug.


Ein Schweinchen namens Napoleon

31. August 2007

Spiegel Online hat skurille Rechtsfälle gesucht und diesen hier gefunden:

In Frankreich ist es gesetzlich untersagt, ein Schwein “Napoleon” zu nennen.

Aha, “gesetzlich”. Wirklich? Die Behauptung taucht ausschließlich in den einschlägigen “Dumb Laws”Listen auf, die niemals ihre Quellen nennen. Ansonsten: Fehlanzeige. Der Name “Napoleon” wird in den aktuellen französischen Gesetzen nur noch im musealen oder numismatischen Zusammenhang verwendet, von Tiernamen oder sonstigen Beleidigungen steht da nichts (viel Spaß auch bei der Suche nach “empereur” oder “roi”). Zur Beleidigung nach geltendem französischem Recht siehe hier. Der Code Penal von 1810 (englische Version) bestrafte Majestätsbeleidigung (lèse-majesté) nur bei einem Attentat oder einer Verschwörung (complot) gegen das Leben oder die Person des Kaisers (Art. 86). Vielleicht gab es zu Napoleons Zeiten mal ein entsprechendes Gerichtsurteil, aber das wäre erstens wenig überraschend, zweitens kein “Gesetz” und drittens keine Handlungsanweisung für heutige Ordnungs- oder Strafverfolgungsbehörden.

Ob die Redaktion all dies bedacht hat? Hat sie bessere Quellen gefunden? Ich glaube nicht. Die ganze Geschichte ist wohl eher eine urbane Legende – und SPON ist darauf hereingefallen.

Ein klarer Fall von “Recherchophobie“.